Die Zeitpfützen - eine Installation zur Zeit

Eine Kugel, kaum größer als ein Fußball, aber durch das Blei darin fast einen Zentner schwer, hängt an einem langen Stahlseil. Das Seil ist hoch oben, unterhalb der Turmspitze, befestigt und reicht mit der Kugel bis kurz über den Boden. Wird die Kugel angestoßen, dann schwingt sie langsam, geradezu aufreizend langsam, hin und her - etwa von links nach rechts. Würde nun ein Beobachter einige Stunden dort verharren, so müßte er den Verdacht bekommen, irgend jemand mache sich in der Turmspitze an der Aufhängung des Pendels zu schaffen. Die Kugel bewegt sich nämlich nicht mehr von links nach rechts, sondern zum Beobachter hin und von ihm weg. Verblüfft stellt er fest: die Schwingungsebene hat sich allmählich gedreht.
Nun wissen wir seit Kopernikus und Galilei, daß sich die Erde dreht. Wir vergessen dies aber, wenn wir von einem wunderschönen Sonnenuntergang schwärmen, wo doch die Sonne an ihrem Platze bleibt, und die Erde sich im Scheine der Sonne dreht. So löst sich auch das Rätsel des Pendels: die Erde, und mit ihr die Kirche und der Beobachter, sie drehen sich unter dem frei schwingenden Pendel weg.
Eine seit Jahrmillionen von kosmischen Kräften gesteuerte Bewegung (die Erddrehung) und eine winzige, vom Menschen verursachte Bewegung (die Pendelschwingung) vereinigen sich in dieser Installation. Ein Bild vollkommener Regelmäßigkeit, Zeitmuster beides seit langem.

Die Kugel enthält nicht nur das schwere Blei, sondern auch einen Behälter mit Farbe. Ein besonderer Mechanismus sorgt dafür, daß in bestimmten Abständen aus der Kugel Farbe auf eine Glasplatte tropft, die wenige Zentimeter unter der schwingenden Bleikugel auf dem Boden liegt.
Zeichnen die fallenden Tropfen zunächst eine Linie auf die Platte, so bedecken sie mit zunehmender Drehung der Schwingungsebene die ganze Fläche der Platte. In Gestalt eines Würfels kommt der Zufall ins Spiel. Die zeitliche Abfolge, mit der die Tropfen fallen, ist nämlich nicht regelmäßig. Vielmehr wird die Tropfensequenz durch Würfelwurf täglich neu bestimmt. So kann es passieren, daß nach einer 'Sechs' über 24 Stunden lang nur alle 85 Minuten ein einziger Tropfen fällt, am nächsten Tag aber, etwa nach einer 'Eins', überfluten die nun im Minutenabstand fallenden Tropfen die Platte.



Kann man sich vorstellen, daß der Sprung des Sekundenzeigers einer Uhr von der Zahl eines Würfels bestimmt würde? Schwerlich. Gleichwohl bilden die Zahlenreihen des Würfels ebenfalls ein Zeitmuster ab, wenn auch ein weniger verläßliches. Es ist ein kapriziöser Takt, mit dem diese Zeit einmal dahin bummelt, ein andermal davon hetzt. Was würde sich ereignen, wenn die Zeit einer treuen Bahnhofsuhr und die Zeit eines zwischen Manie und Depression schwankenden Menschen, explodierend oder wie gelähmt, fast still stehend, zu einem eigenen Zeitmuster vereint würden? Nichts besonderes: Es passiert täglich. Nur das Muster ist noch nicht erkennbar.

Werden verschiedene Zeitmuster zur Koexistenz gezwungen, dann entstehen Verwerfungen und Brüche, aber auch neue Strukturen, die unter dem Diktat einer ein-dimensionalen Zeit nicht entstehen könnten. Zum Glück gibt es aber diese ein-dimensionale Zeit nur in der Theorie, beim Riesenslalom, und in den Wunschzetteln moderner Zeitökonomen.

Die Struktur, die schließlich auf der Glasplatte festgehalten wird, dokumentiert das Zusammenwirken von „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), dem Würfel und ewigen Gesetzen. Und ist denn auf die Natur wirklich Verlaß? Sicher, wenn sie sich an ihre eigenen Gesetze hält. Mitnichten, wenn sie mit dem Zufall spielt. Und so ist überhaupt vieles entstanden, im Laufe der Evolution, was zwar den Stempel der Naturgesetze trägt, und doch auch hätte anders kommen können: die Desoxyribonukleinsäure (DNS) und die Rocky Mountains, zum Beispiel.

Die Zeit in der Musik





10° 25' 44'' östlicher Länge und 51° 54' 24'' nördlicher Breite. 718km östlich von Greenwich. 5753 km nördlich des Äquators.

Technische Assistenz: Diplom-Physiker Dr. H. Modler und Fotos: Regina Nelle und Peter Kaubisch